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Behindertenpolitik in Deutschland - "Das Maß ist voll" v. Ottmar Miles Paul
kobinet-nachrichten v. 20.10.2003
Das Maß ist voll von Ottmar Miles-Paul (kobinet) Dass es in Deutschland zur Zeit nicht rosig mit den Staatsfinanzen und den sozialen Sicherungssystemen steht ist ja mittlerweile weithin bekannt. Daher haben die Behindertenverbände schnell gelernt, dass sie ihre Erwartungen für nötige Verbesserungen für behinderte Menschen im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen herunter schrauben müssen. Dass die Regierung aber auch in Bereichen, in denen es nicht um die Rettung der maroden Staatsfinanzen, sondern um die längst überfällige Sicherung von Bürgerrechten geht, so massiv abbaut und kläglich zu versagen droht, damit hat wohl niemand gerechnet. Die immer deutlicher werdenden Zeichen, dass behinderte Menschen nicht ins zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetz mit aufgenommen und auf ein eigenes Gesetz vertröstet werden sollen, sind daher nicht nur erschreckend, sondern beschämend für rot-grün und diese Bundesregierung. Nachdem sich das Europäische Jahr bereits im letzten Viertel befindet, kann die bisherige Bilanz daher nur lauten «Außer Spesen nichts gewesen». Was ist denn außer den Erinnerungen an schöne Tagungen mit schönen Worten geblieben? Wo könnte man sagen, dass das Europäische Jahr wirklich etwas bewegt hätte? - Wo? Ganz im Gegenteil sehen sich behinderte Menschen und ihre Angehörigen mit massiven Kürzungen im sozialen Bereich auf allen Ebenen konfrontiert und schlucken dabei schwer. Behinderte Menschen und ihre Angehörigen werden wohl erst im nächsten Jahr so richtig spüren, wie die Luft für sie ob der diversen Kürzungen enger wird - und hierzu haben alle Parteien beigetragen, ob im Bund, im Land oder auf der kommunalen Ebene. Doch heute wissen wir bereits, dass es so nicht weitergehen kann, dass wir nicht mehr länger gute Miene zum bösen Spiel machen können. Behinderte Menschen brauchen keine schöne Reden - sie brauchen eine echte Lobby, die ihre Wählerstimmen gewichtiger machen. Gewichtiger gegen die vielen anderen gesellschaftlichen Bereiche, in denen das Geld nach wie vor saftig fließt. Besonders im Hinblick auf das unsägliche Hin und Her bei der Verabschiedung des zivilrechtlichen Antidiskriminierungsgesetzes wird deutlich, wie wenig behinderte Menschen und ihre Rechte wirklich wert sind. Bei der Verabschiedung des Behindertengleichstellungsgesetzes wurde von der Regierung schon versprochen, dass es noch vor der Bundestagswahl im September 2002 ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz für Behinderte geben wird. Die letzte Legislatur verstrich und der recht gelungene Entwurf für das Gesetz blieb trotz aller Versprechungen in der Schublade des Justizministeriums liegen. Dann wurde das Versprechen im Wahlkampf erneuert, nur damit es die neue Bundesjustizministerin Brigitte Zypries nach der Wahl gleich wieder anzweifeln und verwaschen konnte. Mit der zögerlichen und zunehmend ablehnenden Haltung und der immer deutlicher werdenden Taktik, behinderte Menschen wieder einmal in eine Sonderschiene zu schieben, dreht sich die Spirale der Unglaubwürdigkeit der Bundesregierung in dieser Frage nun in Windeseile in den Keller der Glaubwürdigkeitsskala. Bei dieser Frage zählt das Argument der maroden Staatsfinanzen schlichtweg nicht, bei dieser Frage geht es um den simplen Willen der Abgeordneten und der Regierung, ob behinderte Menschen im Sinne einer übergreifenden Antidiskriminierungskultur in das Antidiskriminierungsgesetz mit aufgenommen werden oder nicht. Wo sind die Abweichler, die Wilden oder die Aufständler in der Regierungskoalition und der Opposition, die sich für die Bürgerrechte behinderter Menschen quer stellen - wo sind sie? Die schäbigen Versuche, dabei mit den besonderen Bedürfnissen behinderter Menschen zu argumentieren, die einer besonderen Betrachtung und Regelung bedürften, haben nichts, aber auch gar nichts mit dem gerne proklamierten Paradigmenwechsel zu tun. Der Ruf nach immer weiteren Diskriminierungsfällen ist dabei besonders peinlich und geht auf das Niveau der Kohl-Ära zurück, als behinderte Menschen noch mühsam darstellen mussten, dass sie überhaupt diskriminiert werden. Das gegenwärtige Agieren des Bundesjustizministeriums ist ein Rückfall in ein längst überwunden geglaubtes und bürokratiebessenen Denkens, das in einer modernen Gesellschaft, die etwas auf die Bürgerrechte der Menschen gibt, keinen Platz mehr hat. Denn behinderte Menschen wollen nicht mehr - aber auch nicht weniger - als nichtbehinderte Menschen, sie wollen lediglich einen Schutz vor Diskriminierungen, die sie aufgrund ihrer Behinderung noch erleben müssen. Es spricht nichts dagegen, die besonderen Bedürfnisse behinderter Menschen in einem gesonderten Gesetz noch zu vertiefen und zu berücksichtigen, doch weshalb kann man dann diese Gruppe nicht vorher in einem allgemeinen Gesetz mit aufnehmen und ihnen schon einmal die Grundrechte gegen Diskriminierungen zugestehen? Das Maß der Heuchelei, vorzugeben, es gut mit behinderten Menschen zu meinen und diese gleichzeitig auf die Wartebank der Geschichte zu plazieren, ist voll. Wenn diese Regierung - und rot-grün allgemein - im letzten Viertel des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen nicht noch die Kurve bekommt und zumindest die Aufnahme Behinderter ins zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetz sicher stellt, gibt es keinen Grund mehr, der den hohen Vertrauensvorsprung bei der letzten Bundestagswahl vor allem unter behinderten Menschen und ihren Angehörigen rechtfertigt. Dann hat sich diese Regierung nämlich auf das Niveau der nicht vorhandenen Bürgerrechtspolitik der CDU/CSU und deren paternalistisch geprägten Behindertenpolitik begeben. Es reicht - das Maß ist voll! gefunden von Sonja KommentareFür den Inhalt der Kommentare sind die Verfasser verantwortlich. |